Der westlichste Punkt Japans, im Ost-Chinesischen Meer, 18 km SW vor dem Hafen von Nagasaki
Meerseite © Jürgen Specht, www.juergenspecht.com
Vor Nagasaki ragt eine kleine Insel aus dem Wasser, die ursprünglich den Namen Hashima – Grenzinsel – trug.
Für hundert Jahre wurde sie intensiv bewirtschaftet.
Hier wurde eines der ersten Gebäude mit Stahlbeton – Struktur in der Welt errichtet. Hier lebten die Leute gut, bevor sie in den Krieg geschickt und durch Zwangsarbeiter ersetzt wurden, danach blühte die Insel nochmals richtig auf. 1959 wurde hier die weltweit höchste Bevölkerungsdichte aufgezeichnet, fünfzehn Jahre später verliessen die Bewohner ihre Insel fluchtartig.
Für die meisten gilt sie als Schandfleck, als Mahnmal der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur, ehemalige Bewohner sehnen sich jedoch zurück, hier war es “good to live”. Es gibt eine Initiative, die Insel ins UNESCO-Weltkulturerbe aufzunehmen.
Die Geschichte und die natürlichen Bedingungen dieser Insel spiegeln in vielerlei Hinsicht die hundert Jahre in der Geschichte des japanischen Archipels als Ganzes wieder.
SO-Ansicht © Jürgen Specht, www.juergenspecht.com
Von 1890 bis 1974 wurde hier hochqualitative Kohle für den Einsatz in Stahlwerken aus dem unterseeischem Bergwerk von Mitsubishi gefördert, das eine führende Rolle in der Industrialisierung von Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte.
Zuerst war die Insel eine relativ kleine Felsfläche, die aus dem Meer ragte. In mehreren Phasen wurde sie durch Aufschüttung mit Material aus dem Bergwerk um zwei Drittel der ursprünglichen Fläche erweitert. Heute misst sie 480m x 160m, also 6,5 ha. – die Fläche von etwa vier Fussballfelder – und ragt 48m hoch aus dem Wasser.
Mit jeder Erweiterung der Insel wurden neue Wohnungen gebaut. Eines der weltweit ersten Stahlbeton -Wohngebäude wurde hier 1905 errichtet. Sogar während dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bau nicht unterbrochen. Lange Zeit galt Gunkanjima als die grösste Baueinheit in Japan.
Die Bewohner der Insel bildeten eine selbständige Gemeinschaft unter der Kontrolle eines einzigen Unternehmens. Es gab nie einen Masterplan für die Anordnung der Gebäude auf dieser Insel, und das Ergebnis stellt ein Modell anonym gebauter Wohnhäuser dar, die stark den Gemeinschaftssinn der Bewohner wiederspiegeln.
Die Insel bildet eine vollständige urbane Einheit, in welcher sämtliche Arten von Gebäuden und Dienstleistungen, die für das menschliche Leben notwendig sind, in einem ausserordentlichen mehrstöckigem Komplex konzentriert wurden.
In vier Einträge werden die unterschiedlichen Phasen der Entwicklung der Insel von der Erschliessung bis zum Zerfall präsentiert.
Der Schrein, Bau 1927
Vor der Industrialisierung
- 1810 Auf der Insel Hashima wird freiliegende Kohle entdeckt
- 1870 Eröffnung des Kohle-Bergbau Betriebes
- 1882 Die Insel befindet sich im Besitz von M. Nabeshima, ein mächtiger Herr des Nabeshima-Clans.
- 1887 Erster Stollenbau wird begonnen (Tagelöhne 0,25 ~ 0,50 Yen)
- 1890 Firma Mitsubishi kauft die gesamte Insel.
- 1891 Aus Meerwasser wird Frischwasser destilliert, dieses wird von Tür zu Tür geliefert, als Nebenprodukt entsteht Salz
- 1893 Die Grundschule öffnet ihre Pforten
- 1894 (Der Chinesisch-Japanischen Krieg bricht aus)
- 1897 Die erste Landgewinnung wird durchgeführt
- 1904 (Der Russisch-Japanischen Krieg bricht aus)
- 1905 Ein Taifun beschädigt die südlichen und westlichen Teile der Insel starkDie Wohngebäude auf Gunkanjima zeichneten sich durch einen sehr hohen Anteil an gemeinsam nutzbarem Raum aus. Jedes Stockwerk verfügte über breite Gänge in denen die Bewohner viel Zeit verbrachten und sich begegneten.
NW-Ansicht, von links: oben Schrein (1936), Ecke der Nikkyu-Wohngebäude (1918), Geb. 51 (1955) und 48 (1961) © Hamtaro auf Panoramio
Die meisten Wohnungen waren, wie in Japan üblich – im Gegensatz zu Europa, Einzelzimmer-Wohnungen. Der gemeinsam genutzte Raum im Verhältnis zum gesamten Raum betrug in allen Perioden
30 – 36%. Heutzutage ist halböffentlicher Raum ohne klar definierte Nutzung schwer zu rechtfertigen, üblicherweise betrug dieses Verhältnis 7-15%.
Die Tendenz heutzutage ist, dass Wohnungen immer grösser werden, mit stets klar definierten Raumfunktionen. Der gemeinsam nutzbare Raum wird zusehends wegrationalisiert, dies macht jedoch die Einteilung relativ inflexibel.
Allgemein gilt: je niedriger das Gebäude, desto weniger gemeinsam nutzbarem Raum. Dieser Zustand trägt zum individuellen Wohngefühl bei, durch das Gegenteil wird jedoch der Gemeinschaftssinn gestärkt.
Der öffentliche Bereich wurde so eingerichtet, dass er für die extrem kleine Wohnflächen kompensiert.
© Hamutaro
Je nach Epoche können anhand der Bauart der Auskragung, Wasserabdichtung, und Dachentwässerung unterschiedliche Bautypen identifiziert werden – je nach Art der Erschliessung:
- Offene Korridore innerhalb der Tragstruktur – Geb. 30 von 1916, die Nikkyu-Flats (Geb. 14-19) von 1918
- Offene Korridore auskragend – dieser Typ erschien 1939 – Geb. 56, 57
- Gebäudeinterne Treppenhäuser – erst nach 1945 – Geb. 65
- Gebäude mit Treppenhaus an beiden Enden – gibt es nur 2, diese sind in der Regel niedrig, in diesem Fall 3 Stockwerk hoch – Geb. 2(1950) und 25(1954)
Die Treppe am Ende des Gebäudes© Mario Gallucci
Industrialisierung, Erster Weltkrieg
- 1906 Elektrische Beleuchtung wird installiert (nur ein Jahr nach Erstanwendung in Japan)
- 1907 Untersee-Kabel werden zwischen Hajima und der benachbarten der Insel Takashima gelegt
- Die fünfte Landgewinnung wird durchgeführt
- 1910 (Japan annektiert Korea)
- 1914 (Der erste Weltkrieg bricht aus)
- 1916 Gebäude Nr.30, der älteste Wohnungsblock mit Stahlbetonstruktur in Japan, wird gebaut (7 Stockwerke hoch)
- 1918 Wohnblöcke Nr. 16 ~ 20 (Stahlbetonstruktur, 9 Stockwerke hoch) werden gebaut
- Das Dampf-Kraftwerk auf der benachbarten Insel Takashima beginnt Gunkanjima mit Strom zu versorgen
- (Der Erste Weltkrieg endet)
Sicht auf Nagasaki © Jürgen Specht
- 1921 “Nagasaki Daily News” bezeichnet die Insel erstmals als “Gunkan-jima”, was auf Japanisch Kriegsschiffinsel bedeutet, weil diese vom Meer aus wie das Kriegsschiff “Tosa” aussieht
- 1922 Eine Anlegestelle mit Kransystem wird gebaut
- 1923 (Kanto-Erdbeben Katastrophe)
- 1925 Der südliche Teil der Insel leidet stark infolge eines Taifuns
- 1927 Das Kino Showa-kan (Gebäude Nr. 50) wird gebaut
- 1930 Der westliche Teil der Insel wird von einem Taifun zerstört
- 1931 Yugao-Maru, das erste Stahlschiff in Japan, wird für die Insel eingesetzt
- Die sechste Landgewinnung wird durchgeführt
- 1932 Ein Wasserboot, die Mishima-Maru, wird eingesetzt
- Das Förderband ersetzt die Pferde beim Kohletransport im Stollen
- 1933 Frauen wird die Arbeit im Stollen verboten
- 1935 Gunkanjima und Takashima beenden die Salzherstellung
- 1937 Das Unternehmen Mitsubishi eröffnet eine Spielschule auf dem Dach des Gebäudes Nr. 20
- 1938 Ein Untersee – Telegraph wird eingerichtet
Die Geländer aus Holz, Stahl würde wegen salziger Meerluft zu schnell rosten, 80er Jahre © www.archibase.net
Gebäude Nr. 30, 1916
Ältestes Wohngebäude auf der Insel, 7 Stockwerke hoch, teilweise unterkellert.
Zwei Mal saniert: 1928 wurde Stahlverstrebungen eingebaut, zur Verstärkung der Verbindung zwischen den Balken und der Fassade, dazu wurde gegen Feuchtigkeit schützender Mörtel benutzt.
1954 wurden die veralteten Bewährungen im UG bis 4.OG mit runden, beständigeren Stahlbewährungen ergänzt. Daher sind heutzutage wesentlichere Zerstörungen in den oberen Stockwerken als in den unteren erfolgt. Dies geschah auch infolge der Verwendung von Meersand für die Zementmischung (Mangelnde Erfahrung im Stahlbetonbau)
Die einzigen Gärten auf der Felsinsel wurden auf den Dächern gebaut, hier Nikkyu Flats © Mario Gallucci
Nikkyu Flats, 1918
Die bereits erwähnten Nikkyu-Flats sind durch einen langen Laubengang auf der Meerseite verbunden, der auch als Dämpfer gegen die Wellen und Stürme funktionieren sollte. (Die davor stehenden Gebäude wurden erst in den 50er und 60er Jahren gebaut)
Die Bewohner gaben den Laubengängen viele andere Funktionen:
- sozial-als Treffpunkt für die Frauen, die Wasser holen gingen
- als Schlaf- Raum für heisse Nachmittage und Abende, in der warmen Jahreszeit
- als Spielplatz für kleine Kinder, die so auch die Verhaltensregeln im Umgang mit Erwachsenen lernten
- als “Waschküche” in der Regenzeit
- als Bastelraum/Reparatur-Werkstatt
- als Versammlungsplätze, ähnlich wie kleine Parks in Grossstädten
- als Informationsorte – “schwarzes Brett”
Im Gegensatz zu europäischen Wohnungen haben japanische immer einen Raum, um die Schuhe auszuziehen. Dieser befindet sich meist ausserhalb des Wohnbereiches, unter einer Auskragung und dient zugleich einer Vielfalt anderer Nutzungen (z. B. kleine Ladenfläche). Heutzutage wird dieser Raum zu Gunsten der klar definierten Räumlichkeiten wegrationalisiert, dies trägt zu einer Verarmung des Gemeinschaftssinnes bei.
All diese Nutzungen verwandelten Wohnungen in wesentlich offenere Einheiten, als wir sie heute in Grossstädten kennen, da einige Aktivitäten, die wir heute als “privat” bezeichnen, in den halböffentlichen Räumen stattfanden.
Je nach Familienzusammensetzung konnten diese Räume als zus. Schlafraum, Lagerraum, Wohnzimmer.
Auf Gunkanjima gab es nie Vorschriften für die öffentliche Durchwegung, diese hat sich demzufolge den Bedürfnissen nach entwickelt. Die Bewohner hatten über die Brücken und Durchgänge, welche die Gebäude verbanden, Zugang zu sämtlichen Strukturen der Insel, ohne gezwungen zu werden, je auf den Boden hinunter zu steigen. Wie in Babylon.
Da die gesamte Insel einem einzigen Unternehmen gehörte, konnten administrative Angelegenheiten (Umbau, anfallende Reparaturen) sehr schnell und ohne komplizierte Behördengänge erledigt werden.
Allein die Topographie der Insel – extreme Hanglage – unterschied die Wohnungen, jeder Raum hatte eine charakteristische Aussicht. Dies trug wiederum zum individuellen Gefühl bei, obwohl alle Wohnungen grundsätzlich dieselben Grundrisse hatten.
Individuelle Aussicht © Hamutaro
MakingPlaces, ein virtuelles Wiederaufbauprojekt
Das Projekt Gunkanjima Odyssey, hier die Gallerie
Als Hobby-Babylon-3dler interessiert mich die Bemerkung "Wie in Babylon."
Meinst du damit in Babylon seien Wohnhäuser mit Brücken und direkten Durchgängen verbunden? Hätte noch nie was davon gehört. Wie wurde das mit den vorherrschenden gebrannten Lehmsteinen gemacht? Oder mit importiertem Zedernholz?
Oder meinst du die öffentliche Nutzung der Innenhöfe der Häuser?
Ich meinte es in einem anderen Sinn: dass man im alltäglichen Leben sämtlichen Beschäftigungen in unterscheidlichen Gebäude- /Stadtteilen nachgehen konnte, ohne je auf den Boden hinuntersteigen zu müssen. Wie es genau in Babylon war kannst Du mir gern einmal erklären.